Was Achtsamkeit ist – und was nicht
Dieses Bild einer meditierenden jungen Frau, die im Lotus-Sitz in weißer Kleidung an irgendeinem See sitzt und glücklich lächelnd Richtung Sonnenuntergang schaut … NERVT mich! Klar, als Meditationslehrerin habe ich das natürlich gaaanz achtsam reflektiert. 😉
Hier erfährst Du, was mich daran stört und warum solche Bilder oft mehr schaden als nützen.
Das soll Meditation sein!?
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Bei Achtsamkeit geht es um Dinge, die man nicht sehen kann
Es geht um Wahrnehmen, Nicht-Urteilen und im-Moment-Sein – beziehungsweise immer wieder zurückkehren. Jon Kabat-Zinn, Begründer des MBSR-Programms (Mindfulness-Based Stress Reduction) beschreibt Achtsamkeit so:
„Achtsamkeit ist das Gewahrsein, das entsteht,
wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Weise ausrichten:
absichtslos
im gegenwärtigen Moment
und nicht wertend.“
Weiße Kleidung, Lotus-Sitz und entrücktes Lächeln: alles rein optional! und was den See bei Sonnenuntergang angeht, so kann ich nur sagen: denkt an die Stechmücken!
Mal ganz im Ernst, warum halte ich dieses Bild für so unglücklich? Weil es bei so vielen Menschen völlig falsche Erwartungen daran weckt, was Meditation und Achtsamkeit eigentlich sind. Das fängt an bei äußeren Vorstellungen, wie das auszusehen hat, und geht weiter damit, dass es auch innerlich vermeintlich etwas falsch und richtig zu machen gibt. Zum Beispiel ist eine sehr verbreitete Meinung, dass beim Meditieren die Gedanken aufhören (sollten). Nö! Es KANN passieren, dass sie ruhiger werden – und das ist natürlich angenehm. Doch auch darum geht es primär gar nicht! Aber viele Menschen erleben, dass die Gedanken sogar erst einmal lauter werden, und sagen dann: „Ich kann halt nicht meditieren. Ich kann einfach nicht abschalten. Ich habe die ganze Zeit Gedanken im Kopf. Ich kann das nicht. Das ist nichts für mich.“ Und das ist so schade!
Denn damit geben viele auf, ihre Aufmerksamkeitslenkung zu trainieren
Sie verzichten darauf, zu erfahren, was es bewirkt, seine Sinne bewusst immer wieder nach innen zurückzuholen. (Wichtig: „Immer wieder“ – die Wiederholung macht es zur Übung!) Und zu lernen, auch mit Dingen präsent zu sein, die unangenehm sind. Dies „halten“ zu lernen (nicht: „Aushalten!). Wenn sie zu schnell aufgeben bzw. sich mit „Nicht-Können“ identifizieren, verpassen sie zudem die Chance zu erleben, wie sich ihr Nervensystem im Laufe der Zeit oft ganz von alleine beruhigt. (Geheimtipp: Entspannung erzwingen zu wollen, funktioniert nicht. Absichtslose Präsenz hat hingegen fast immer eine entspannende und beruhigende Wirkung).
Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, sich selbst zu spüren und geduldig mit seinen eigenen inneren Reaktionen zu sein: Das sind Geschenke von Achtsamkeit, die wir heute in einer chaotischen, lauten, ungeduldigen und oft wenig wertschätzenden Welt dringend benötigen! Sie sind ein Tor zu unserem eigenen Inneren, in dem der Schlüssel zu einem glücklichen, erfüllten, sinnvollen und selbstbestimmten Leben liegt. Es ist wertvoll zu lernen, dass wir diesen Schlüssel in uns selbst haben und gezielt auf unsere Ressourcen zugreifen können!
Natürlich kann Meditation nicht alles lösen
Achtsam wahrzunehmen, welche Unordnung gerade in einem Zimmer herrscht, macht das Zimmer nicht aufgeräumt, egal wie achtsam wir sind. Deshalb gilt es auch, (wieder) ein gesundes Verhältnis zum aktiven Tun zu entwickeln. Herauszufinden, was für uns jetzt wirklich wichtig, relevant und stimmig ist.
In vielen Momenten unseres Lebens gelingt es uns das auch völlig mühelos, denn da sind wir in Einklang mit uns selbst. Doch in anderen Bereichen oder Situationen unseres Lebens kann es uns sehr schwer fallen, weil wir uns selbst im Wege stehen oder die Umstände herausfordernd sind. Dann ist es gut, gelegentlich schon mal Achtsamkeit geübt zu haben. Denn es geht darum, diese Fähigkeit zur Achtsamkeit ins tatsächliche Leben zu bringen, nicht nur auf der Meditations-Matte (oder sonstigem idealem, ruhigen Ort) damit zu bleiben. Sonst wäre es steril, es geht aber um Lebendigkeit! Und darum, wie sich diese in jedem von uns individuell ausdrücken will.
Wir brauchen Symbolbilder, aber …
… meines Erachtens wird es höchste Zeit, die junge Frau im weißen Dress endlich von den Stechmücken und vom Muskelkrampf in den Beinen zu erlösen und das Bild zu sehen als das, was es ist: Ein kultureller Stereotyp von Meditation, der mit dem tiefen Wesen von Achtsamkeit ungefähr so viel zu tun hat wie eine Hollywood-Schmonzette mit echter Liebe. Symbolbilder sind oft nützlich und manchmal sogar hilfreich, wenn sie uns an eine tiefere Essenz in uns Selbst erinnern. Manchmal schaden aber Bilder auch, denn sie verweisen auf eine Oberfläche oder eine erstarrte Vorstellung – und dann gilt es, sie zu hinterfragen. Im Buddhismus geht das sogar noch einen Schritt weiter „If you meet the Buddha – kill him!“, heißt es dort. Beziehungsweise, etwas pazifistischer:
„Wandle nicht auf den Spuren der Meister, sondern suche, was sie suchten.“
Hinterfrage Dein Bild von Achtsamkeit!
Wo und wie und wann wärst du gerne achtsamer, auch wenn es vielleicht gar nicht zu den typischen Bildern von Achtsamkeit passt?
Es ist möglich, achtsam Auto zu fahren, eine unangenehme Email zu schreiben, ein weinendes Baby zu trösten oder einem trotzigen Teenie Paroli zu bieten, den aufsteigenden Ärger in einem Streit zu beobachten, zu duschen, den nächsten Urlaub zu planen, einzukaufen oder zu kochen.
Probiere es einfach mal aus! Die drei magische Zutaten sind: Wahrnehmung, Nicht-(Selbst-Ver-)Urteilen und Präsenz. Dazu gib noch eine Prise Wohlwollen gegenüber dir selbst, wenn es nicht „klappt“. Es gibt kein Falsch und kein Richtig. Achtsamkeit ist ein Weg, sich selbst besser kennenzulernen. Und einen guten Umgang mit sich selbst zu kultivieren. Denn: Vergleich dich bitte nicht mit anderen! Das Gedankenkarussell im Kopf von anderen kannst du (zum Glück) nicht sehen.
Praxistipp: Gehe ohne Erwartungen und von außen geprägte Bilder heran!
Setze Dich einfach vor dem Schlafengehen für 5 Minuten auf Deine Couch. Mach es Dir bequem – Du musst nur frei atmen können. Dann beobachte, wie sich Dein Atem anfühlt.
Wie er kommt und geht. Wie auch Deine Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Und vielleicht fällt Dir dabei nach einer Weile auf, dass es tief in Dir eine ruhige Schicht gibt. Dort ist die innere Stille. Dort ist die Quelle Deiner inneren Weisheit. Dort ist verspielte Neugier und staunende Freude über dieses Wunder Deines Atems, Deines Körpers und Deines Lebens.
Es mag sein (und ist wahrscheinlich so!), dass darüber – in verschiedenen anderen Schichten – auch Unruhe ist und Gedankenwirrwarr, intensive Gefühle oder unangenehme Körperempfindungen. Auch das gehört zum Leben dazu. Und, wann immer es sich zeigt, eben zum jeweiligen Moment.
Doch es gibt einen Teil in Dir, der kann das alles halten (manchmal vielleicht nur für Millisekunden, aber das macht schon einen großen Unterschied!). Der achtsam und wohlwollend beobachtet. Und Dich spüren lässt, wenn etwas nicht stimmig ist. Manchmal schickt er Dir auch Impulse, wie Du Dein Leben glücklicher, authentischer, erfüllter und sinnvoller gestalten kannst. Was Dir gut tut und was nicht.
Bist Du bereit, nach Innen zu lauschen und wirklich lebendig zu sein?
Wenn Du diese Fragen mit Ja beantwortest, kannst Du meditieren!